礼 – rei :: Karate meets Knigge
Etikette im Karate? Naja, die verbeugen sich da ständig und den Chef vons Janze sollste Sensei nennen. Schon anhand dieses einleitenden Satzes dürfte klar werden, dass das hier eine eher subjektive, unsystematische und ganz und gar nicht vollständige oder auch nur vorläufig abschließende Behandlung des Themas wird …
Nobody is too big to be courteous, some are too little.
(R. W. Emerson, 1803-1882)
Grundwissen
kanji/romaji | Übersetzung |
rei 礼 o お rei 礼 (höfliche Form) |
礼 – Dank, Dankbarkeit // Sitte, Etikette // Verbeugung // Belohnung, Geschenk // Zeremonie, Ritual |
rei 礼 shiki 式 | 式 – Gleichung, Formel, Ausdruck // Zeremonie // Stil 礼式 – Etikette, Sitte |
rei 礼 gi 儀 | 儀 – Zeremonie // Sitte 礼儀 – Sitte, Höflichkeit, Etikette |
rei 礼 hō 法 | 法 – Gesetz, Handlung, Prinzip // Methode 礼法 – Etikette, Höflichkeit, Sitte |
reigi 礼儀 sahō 作法 | 作 – Arbeit (z.B. in der Kunst), Produktion // Ernte, Anbau // Landwirtschaft, Ausbeute, Ertrag // Technik 礼儀作法 – Etikette, Höflichkeit |
Etikette und Kampfkunst
Etikette im Karate? Naja, die verbeugen sich da ständig und den Chef vons Janze sollste Sensei nennen.
Etikette scheint also in dieser ersten Begriffsnäherung eine Ansammlung von Verhaltensweisen zu sein. Man kann sich der Sache rekonstruierend von außen nähern, dann ist diese Ansammlung eine Deskription, eben eine Beschreibung des vorgefundenen Verhaltens. Man kann sich der Sache von innen als (beginnender) Übender nähern, dann handelt es sich eher um eine Normierung, um eine Ansammlung von Vorschriften sich zu verhalten. Etikette hat also eine normative Seite, die immer dann ins Bewusstsein rückt, wenn man sich in Konflikt mit derselben befindet oder meint zu befinden. Sie hat aber eben auch eine Seite, die sich am besten mit „so ist es in dieser Gruppe” beschreiben lässt, etwas Etabliertem, einer gelebten Umgänglichkeit, die mehr oder weniger reflektiert daher kommt. Dieser Gegenüberstellung stehen jede Menge weitere Perspektiven zur Seite, aus denen man auf Etikette schauen kann bzw. aus denen heraus sich Fragen über Etikette formulieren lassen. Auf eine dieser Perspektiven wird im Folgenden näher eingegangen.
Vorab sei als Arbeitsdefinition festgelegt:
Etikette ist eine Ansammlung von Verhaltensweisen/ -regeln oder Ritualen, die Interaktionen in einer Gruppe bestimmen oder (stark) beeinflussen.
Etikette oder der Versuch einer formalisierten Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft
Die Selbstvervollkommnung des Menschen, die Entwicklung seiner Anlagen, das Ausschöpfen seines Potenzials, die Aufgabe etwas aus sich und seinem Leben zu machen (hier ist ausdrücklich nicht die Rede von überbewerteten Titeln oder Geld), die Herausforderung morgen besser zu sein als heute, etwas zu tun, dass es Wert ist getan zu werden ist der (Karate)übung inhärent. Ob man es weiß oder nicht, ob man es will oder nicht und auch ob man etwas dafür tut oder nicht – Karateübung ist Selbstentwicklung, auch für denjenigen, der es als Sport versteht, als Zeitvertreib oder Fitness. Die Frage ist nur, wie sich die vermeintliche Übung auf das eigene Sein auswirkt, welche (Teil-)Entwicklungen gefördert, welche ausgebremst werden – bewusst oder unbewusst g/beachtet oder ung/beachtet bleiben. Man kann sich ein halbes Leben lang mit Karate als Übung beschäftigen und glauben, dass die Aufgabe der Selbstvervollkommnung ausschließlich die eigene Person betrifft, dass dafür Arbeit an sich selbst, durch sich selbst und für sich selbst gemeint ist … allein das ist ein Irrtum … mindestens solange nicht anerkannt wird, dass es Teil der Entwicklung und Aufgabe des Menschen ist mit der Welt verbunden ein Ganzes zu bilden oder – weniger esoterisch – die Eingebundenheit in diese Welt anzuerkennen und zu achten. (Dass die Welt nicht nur die soziale Umwelt ist und dass die Idee auf der Hand liegt, auch gegenüber unserer sonstigen belebten und unbelebten natürlichen Umwelt eine Art Etikette einzuführen, wird hier ignoriert.) Auf sich allein gestellt, bleibt der Mensch eine unerfüllte Versprechung. Die Aufmerksamkeit fällt damit auf eigenes Verhalten zum Wohle der Menschheit oder – weniger großspurig – zum Wohle einer Gruppe bzw. ihrer Mitglieder. Aber wie verhält man sich zum Wohl der Gruppe? Aus meiner Sicht so, dass jeder und jede er und sie selbst werden und eben überhaupt werden, nicht bleiben (!), kann. Allgemeiner verbreitet ist dieser Gedanke in Form des I. Kant zu geschriebenen gängigen Zitats „Die Freiheit des Einen endet dort, wo die des Anderen beginnt“ oder wer es mit O. W. Holmes konkreter mag „The right to swing my fist ends where the other man’s nose begins.“ (Der Verlauf dieser Grenze muss vage bleiben und ist leider nicht einfach so zu finden, wie es das Zitat von Holmes impliziert.)
Etikette versucht nun Werte (z.B. auch Freiheit) in Teilziele zu zerlegen und diese wiederum in Handlungen und Verhalten zu übersetzen, also zu operationalisieren im eigentlichen Sinne des Wortes (verrichtbar zu machen).
Ein paar Einwände oder Bedenken: Kann das gelingen? Muss es nicht genau besehen scheitern? Sind nicht Werte mehr als die Summe von Verhaltensweisen? Ist das nicht nur Tarnung für Hierarchiebildung oder –erhalt, für Etablierung und Aufrechterhaltung von Macht? Muss es nicht automatisch zu einer Schleimerei, einem Verlust an Wahrhaftigkeit und Kritik(fähigkeit) kommen? Diese Liste an Fragen ist ganz sicher fortsetzbar … und letztlich muss jede(r) eine eigene Antwort finden. Es folgen zwei Punkte, die mir so wichtig erscheinen, dass ich sie doch aufgeschrieben wissen will – vielleicht nur um in einem Jahr über ihre Unzulänglichkeit zu lächeln.
Wie also verhalten sich Verhaltensregeln zu Werten?
Es ist ganz sicher so, dass Werte mehr sind als die Summe aller Verhaltensregeln. Ganz einfach schon deshalb, weil die Anzahl der Situationen bzw. deren Variationen unendlich groß ist (oder wenigstens so groß, dass das Erlernen von Verhaltensweisen für jede dieser Situationen die menschliche Gedächtniskapazität übersteigen würde) und irgendwie wissen wir dennoch, ob eine Verhaltensweise wertkonform ist, ob sie als Hybridprodukt konkurrierender Werte zu deuten ist oder ob es sich einfach nur um eine Verfehlung (im Sinne von den Wert nicht „getroffen“) handelt. Es herrscht also keine Beliebigkeit zwischen Werten und Handeln, aber auch keine eineindeutige Beziehung. Handeln kann in Einklang und/oder Widerspruch zu einem Wert erfolgen, aber aus einem Wert lässt sich noch keine Handlung vorhersagen und aus einer Handlung lässt sich nicht auf einen dahinter stehenden Wert schließen – jedenfalls nicht zwingend, auch wenn wir dies häufig tun und es auch oft gut geht. Der Verweis auf die Psychologie entfällt.
Die dunkle Seite der Verhaltensregulierung
Die zweite Bemerkung betrifft die beispielhaft aufgezählten Gefahren, die tatsächlich existieren und höchst relevant sind.
Es ist wie immer mit den größeren und großen Dingen im Leben , eben jenen, die dem Leben (rückblickend?) Bedeutung geben. Sie zu unterlassen ist ebenso „falsch“ wie sie zu übertreiben. Die Dinge, bei denen das nicht so ist, sind wohl Trivialitäten und selbst bei denen trifft die Aussage noch zu, nur ist sie hier weniger offensichtlich – jedenfalls wenn an Ying Yang (In Yo) etwas dran ist. Der hier angeführte Gedanke der Balance zwischen „Vergöttlichen und Verteufeln“ führt etwas konkreter – die Gegenposition zur Abwendung vom Thema wegen lauernder Gefahren einnehmend – zu der Frage: Sind wir in der Lage ohne einen „Gegenstand“ zu lernen? Hilft nicht die Ansammlung von Regeln, unsere Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen, einen Fokuspunkt für die eigene Werteentwicklung zu haben, eine Messlatte, einen Sandsack oder eine Herausforderung, woran man sich abarbeiten kann? Was also, eine die Argumentation stützende Beantwortung der (eigentlich rhetorischen) Fragen vorausgesetzt, hier entscheidend zu sein scheint, ist die Gewichtung und die Richtung, in der das ganze Projekt – die Auseinandersetzung mit, Implementierung und Einhaltung von Eitkette – verfolgt wird. Schlägt der Zeiger (der nicht existierenden Balkenwaage) in Richtung Gehorsam und Gruppenkonformität aus, besteht die Gefahr Mitläufer im dôjô anzusammeln und auszubilden. Schlägt er umgekehrt in Richtung Selbstbewusstsein, missverstandene Freiheit und Unabhängigkeit im Sinne von Ich-Behauptung aus, besteht die Gefahr, sich an physischer Überlegenheit Selbstwertgefühl aufbauende Egozentriker im dôjô anzusammeln. Der Prozess spielt sich in der Zeit ab und das zu findende Gleichgewicht ist kein statisches und kann kein statisches sein. Es ist ein dynamisches, dessen Aufrechterhaltung immer eine Frage der Nachjustierung ist (Menschen kommen und gehen, Zeiten ändern sich, Verständnis ändert sich …), die nicht nur (!) aber eben v.a. moderierend auch dem Chef vons Janze zukommt.
What else is new?
In dem Gesagten klang an einzelnen Stellen schon an
- Etikette bietet Rituale, die an eine bewusste Gestaltung des Umgangs mit anderen appellieren, und dadurch Gelegenheit bieten, den reflektierenden Blick nach Innen zu richten.
- Etikette ist eingebettet in ein gesellschaftliches Ganzes, von dem sie sich mehr oder weniger bewusst abgrenzt, aus dem sie sich aber immer auch mehr oder weniger bewusst speist.
- Etikette unterliegt damit zeitlichen Änderungen,
- Etikette ist symbolhaltig und über den Körper auf den Geist wirksam.
Diese Aufzählung bietet einige Richtungen, die man weiter verfolgen könnte, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Etikette und ihre Rolle im Karate sind jedenfalls zentral und eine Antwort auf die Frage nach dem was, wie und warum mit fortschreitender Übungszeit ebenso relevant wie die Frage nach dem was, wie und warum der Übung an sich. Vielleicht ist das Finden einer (tiefen) Antwort auf die eine Frage nach dem Einen gleichzeitig auch eine Antwort auf die Frage nach dem Anderen.
Das war’s …
Fast am Ende, der Versuch einer verbesserten Defintion.
Etikette ist eine Ansammlung von Verhaltensweisen/ -regeln oder Ritualen, die erdacht und ausgeführt werden, um die Interaktion eines Menschen mit sich und seiner Umwelt positiv zu beeinflussen.
Abschließend noch die Feststellung, dass weder das Vorhandensein von Etikette noch das Einhalten derselben an sich eine Qualität darstellt. Entscheidend ist vielmehr die Haltung des Ausführenden. Nicht das Ritual oder dessen Einhaltung zählt, sondern die dahinterstehende Werthaltung und Motivlage.
– Einschränkung oder verstehensnotwendiger Rahmen von 不言実行 – fugen jikkō?
Entstanden ist dieser Text aus Anlass eines theoretischen Seminars im KU Germany Sommercamp 2014, das unter dem Motto stand 不言実行 – fugen jikkō – Not words, deeds!
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