Karate und Selbstverteidigung
Das Folgende ist weder vollständig, noch sonderlich gut strukturiert oder gewichtet. Insbesondere ist es keineswegs der Versuch, dem Thema SV in Theorie oder Praxis gerecht zu werden. Es ist lediglich die bloggende Verschriftlichung einiger Gedanken, die streitbar sind, über die zu streiten sich aus meiner Sicht jedoch lohnt, wenn die Beziehung zwischen Selbstverteidigung (SV) und Karatedô zur Diskussion steht … Entstanden ist dieser Eintrag aus Anlass eines Seminares in Gärtringen am 3./4. Mai 2014. Vielen Dank für die gemeinsamen Stunden in der Halle, auf der Matte, auf der Wiese und am Grill!
Irgendwie naheliegend Karate und Selbstverteidigung in einem Atemzug zu gebrauchen. Aber wie ist das mit dem Verhältnis dieser beiden Begriffe was hat SV mit Karate zu tun? Wie verhält sich (mein) Karate zu Selbstverteidigung? Welchen Ort hat das Thema SV in meiner Karate-Übung? Welchen Platz sollte es haben? Solche und ähnliche Fragen sind es, die sich einem/r stellen könnten …
Perspektive 1: Wer Karate als SV versteht, missversteht Karate (zum Teil).
Karate, die Techniken und Anwendungen, die mit den klassischen kata überliefert worden sind und werden, nicht die minimalistische Einschränkung auf das, was heute als Sportkarate betrieben wird, enthalten Prinzipien und Verteidigungstechniken gegen Angriffe, die einem/r in SV-Situationen über den Weg laufen können. Gegen diese Angriffe (Würgen, Umklammerungen, Haare ziehen, Schwitzkasten, Schläge, insbesondere Schwinger, Tritte etc. – im Stand und oder auf dem Boden) enthalten die klassischen kata mehr oder weniger stilisierte, einem ästhetischen Ideal unterworfene Solorepräsentationen von Verteidigungsprinzipien oder –techniken, die wiederum Hebel, Würgen, Würfe, Schläge und Tritte etc. beinhalten.
Einwurf 1: Moment mal, was soll das denn für Karate sein? Wenn das die Frage ist, empfiehlt sich ein Besuch auf einem Seminar von Patrick McCarthy hanshi. (Ersatzweise und in Stichworten sei auf McCarthys kata evolution theory und seinen HAPV-Ansatz verwiesen.)
Einwurf 2: Merkt der noch was? Das widerspricht doch seiner oben gewählten Perspektive. Guter Punkt. Weiterlesen!
Die Analyse und Interpretation dieser kata, der Weg zu passenden Fragen, auf die in ihnen enthaltenen Antworten, ist ein akademisches, anspruchsvolles, kreatives Unternehmen, das zugleich mit der Notwendigkeit, zumindest aber Aufforderung einhergeht, die Entstehung und Entwicklung der karate beeinflussenden Gesellschaften, Kulturen, Persönlichkeiten etc. genauer zu betrachten. Wer aber glaubt, mit diesem Unternehmen allein auf brutale, hinterhältige, überraschende SV-Situationen vorbereitet zu sein, der irrt. Und wer allein dieses Ziel verfolgt, der sollte seine Zeit nicht mit kata und karate verschwenden. Es gibt effektivere (das meint hier weniger Übungsaufwand, schnellerer Lernerfolg – gemessen an diesem verabsolutierten Ziel) Methoden, dieses Ziel zu erreichen. Eine Möglichkeit besteht darin, sich regelmäßig einer Kneipenprügelei auszusetzen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Trainingsbedingungen zu schaffen, die alles andere als sicher, weil eben realitätsnahe (lies brutal, hinterhältig, etc) sind. Das wiederum stimmt nicht mit dem Bild von Karate überein, das in den meisten Köpfen vorherrscht und auf die Arbeit am eigenen Sein, die Ausbildung gegenseitigen Vertrauens, das Entstehen einer Übungsgemeinschaft, die beflügelt, unterstützt, trägt, schützt etc. ausgerichtet ist. Wäre Karate reines SV-Training, gäbe es keinen dogi, keine reishiki, kein kihon, keine Solo-übung, sondern einzig Partner-(und dieser Begriffe wäre dann schon irreführend)übungen und Equipmenttraining (Sandsack, Pratzen etc.). (Ein Nachtrag: Wer nicht einmal sieht das klassische kata Techniken transportieren, die durch Änderung der Trainingsmethoden (nicht der Techniken an sich) SV relevant werden können oder schon sind, der missversteht Karate noch deutlich umfassender.)
Perspektive 2: Karate oder auch Karatedô ist eine (Weg)Übung, die als Kampfkunst das Kämpfen als Weg zum „Nicht-kämpfen-müssen“ wählt.
Diese Kampfkunst also ist beladen mit jeder Menge Mythos, ganz sicher nicht ideologiefrei und sicher auch nicht als etwas festes oder einheitliches definier- oder greifbar (jedenfalls nicht ohne die Essenz des zu fassenden zu verlieren). Als Wegübung hat sie aber immer auch das Ziel psychische Dispostionen zu bearbeiten. Der oder die Übende will „besser“ werden – die Arbeit an sich selbst (zunächst technisch im Training, bald aber menschlich und immer) wird zum eigentlichen Antrieb für die Übung. Das dôjô oder die Übung werden exemplarisch für eine Grundhaltung, die sich in den Alltag fortsetzt. Die Übung wird zum Leben, das Leben ist die Übung. (vgl. Marx, 2010 für Gedanken in dieser Richtung)
Was hat hier SV zu suchen. Friedfertigkeit, Freude, Liebe – all diese Werte sind mit SV wenig bis gar nicht vereinbar und dennoch handelt es sich aus Sicht des Kampfkünstlers um eine dialektische Beziehung. Eine Übung, die das ausschließliche Ziel hat, SV-Fähigkeit optimal zu erreichen und erhalten, ist ganz sicher keine Wegübung, sie verdient auch den Namen KampfKUNST nicht, denn SV-Anwendungen (wir springen gleich in die Situation und lassen den relevanten(!) Vorspann – Aufmerksamkeit, Vermeidung, Kommunikation und Deeskalation etc. außen vor) erfordern Brutalität und maximale Einfachheit. Der Rückzug auf Friedfertigkeit und Liebe ist gefährlich, wenn es sich um eine SV-Situation handelt. Dass Liebe eine Quelle der Kraft sein kann, gerade auch in in einer SV-Situation, ist damit unbenommen. Und auch soll nicht gesagt sein, dass es keine Option wäre die Opferrolle bewusst in kauf zu nehmen. Allein, wer würde das jemanden lehren wollen? Ich jedenfalls nicht. Wenn jemand diese Rolle für sich dennoch für angemessen hält, dann ist das eine eigene (beachtliche oder dumme?) Entscheidung.
SV erfordert auch einfach zu lernende und einfach anwendbare großmotorische Techniken, die auch unter Stress und mit deutlich erhöhter Herzfrequenz, eben im Zustand der Angst, noch funktionieren. Was bleibt da übrig vom Repertoire einer Kampfkunst, vom Perfektionsstreben, dem kreativen Spiel mit Technik, Körper und Geist? Jedenfalls nicht genug, um noch von einer Kunst zu sprechen.
Daher These 1: Ausschließliche SV-Orientierung verstümmelt jede Kampfkunst und jeden Geist.
SV erschafft aber gleichzeitig Situationen, in denen Geisteshaltungen wichtig und bewusst werden, die sonst nur Etikett für leere Behälter bleiben. Ruhe, Leere (mushin), Allgegenwärtigkeit (fudoshin), der Fluss der Gedanken, nicht die passive Wahrnehmung oder Reflexion der Umwelt (des Mondes auf der Wasseroberfläche), sondern das flüssige Auftauchen und Abklingen der Gedanken, das eben ein kristallklares Bild der Umwelt entstehen lässt (so wie der Mond auf der Wasseroberfläche). Die fokussierte Präsenz, das vollständige Aufgehen in der (einen?) Technik. All das wird erst durch den SV-Aspekt im Training relevant im Sinne von notwendig und dadurch erlebbar(er). Eine Übung, die als Kampfkunst bezeichnet werden will, muss sich eben diesem Aspekt stellen und zwar nicht in abstrakter Formalisierung, sondern in dreckiger Konkretion. Das wiederum ist für die Übung als Wegübung ziemlich egal. Auch das Staubsaugen oder Essen kochen kann zur Wegübung (gemacht) werden. Aber die Verbindung zwischen Kampfkunst und Wegübung ist intensiver, direkter, zwingender als die zwischen z.B. Staubsaugen und Wegübung, eben aus den oben genannten Gründen. Dass Fortschritte auf der Ebene des Bewusstseins mit Kampfkunstexpertise verträglich ist, ja sogar symbiotisch einher gehen kann, lässt sich insbesondere anhand der Zenliteratur belegen (exemplarisch sei wegen seiner Bekanntheit auf Musashi verwiesen). Für die Transformation psychischer Zustände wirken SV-Aspekte in einer Kampfkunst sozusagen als Katalysator. Sie schaffen Notwendigkeit und unmittelbare Erlebbarkeit.
Wie immer im Leben, ist es das Verhältnis der Übungszeiten die zum Erreichen miteinander konkurrierender Ziele aufgebracht werden, die darüber entscheidet, welche Ziele wie schnell erreicht werden können. Diese Balance zu finden ist sicher eine der existentiellen Aufgaben jedes/r Kampfkünstlers/in. (Und Balance bedeutet hier keineswegs Gleichheit und ist statisch nicht sinnvoll denkbar. Auch ist das daraus resultierende Ganze, die Gesamtübung mit SV-Aspekten und anderen wegbezogenen Zielvorstellungen, mehr als die bloße Summe ihrer Teile. Eben wegen der sich ergebenen Synergieeffekte.)
Auch hier eine zusammenfassende These 2: Der (weit gefasste) SV-Aspekt ist einer Wegübung, die als Kampfkunst verstanden werden will, unweigerlich inhärent und hat das Potenzial auch auf intendierte psychische Prozesse katalytisch zu wirken.
Der SV-Aspekt in abgeschwächter Form steckt auch hinter dem Funktionalitätsanspruch von Techniken, hinter der Frage und dem Anspruch, ob die Technik eigentlich prinzipiell funktionieren kann, ob sie eben anwendbar ist – gegen wahrscheinliche Angriffe physisch überlegener Gegner. Dieser Funktionalitätsgedanke hat nun eine weitere Implikation, die sich auch auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis auswirkt. Ein solches ist der Definition nach asymmetrisch, beinhaltet Abhängigkeiten und steht immer an der Grenze zum Missbrauch. Die Frage der Funktionalität von Techniken aber ist keine Frage der Erfahrung, sondern in erster Näherung eine Frage von Physik und Anatomie/Physiologie. Das in Details der Ausführung erhebliches Erfahrungswissen steckt, dass die Perfektion der Ausführung keineswegs eine rein rationale Angelegenheit ist, sondern eben Bewusstseinszustände, Emotionen, implizites und explizites Prinzipienverständnis (technisch und (erfahrungs-)philosophisch) erfordert, ist dabei unbestritten. Dennoch hat dieser Aspekt der Funktionalität, der in SV-Techniken in besonderer Deutlichkeit sichtbar wird, einen Einfluss auf die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, auf die Natur des Verhältnisses. Dieses wird in gewisser Weise liberalisiert, weil der Gegenstand rational verhandelbar ist/wird und damit einen Diskurs erfordert oder ernsthaft ermöglicht. Ob man dies als Belastung oder Entschärfung verstehen will, ist wohl eine Frage der gewählten Perspektive. Der Einfluss aber ist Folge der thematischen Hinwendung zu Funktionalität oder SV.
Also These 3: Der in der SV auf die Spitze getriebene Gedanke der Funktionalität beeinflusst in nicht unerheblicher Weise die Natur des Lehrer-Schüler-Verhältnisses.
Anstelle einer Zusammenfassung oder eines Schlusswortes
Wenn ich mir jetzt so eine Mango vorstelle, dann ist das Fruchtfleisch für uns genießbar (womöglich ein Genuss), der Kern eignet sich allerdings weniger zum Essen. Aus dem Kern kann, in geeignete Erde gepflanzt und versorgt, eine neue Mangopflanze wachsen. Die nächste Generation Menschen wird wohl aber sicherlich auch wieder das Fruchtfleisch bevorzugen. So wie mit dem Kern und dem Fruchtfleisch scheint es mir mit SV und Karate als Kampfkunst zu sein. SV ist für uns nicht wirklich genießbar, aber ohne Kern keine Frucht. Wenn der Kern nicht weiter gegeben/eingepflanzt wird, kann auch keine Pflanze zur Blüte und Reife gelangen. (Danke Dinah – für dieses wichtige Aspekte treffende Gleichnis.)
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