Yamane Ryû
Was bitte sind denn kobudô und kobujutsu?
Zunächst betrachten wir mal die Suffixe -dô (道,Weg) und jutsu (術, Technik). Zusammen mit den Silben ko (古, alt) und bu (武, militärisch) ergibt sich für kobudô (古武道) “alte Kriegskunst”. Kobujutsu (古武術) meint den gleichen Gegenstand, betont jedoch den technischen Aspekt der Übung.
Im Allgemeinen wird mit kobudô oder kobujutsu der Teil der okinawanischen und japanischen Kampfkünste bezeichnet, der nicht mit bloßen Händen praktiziert wird. Unter kobudô lassen sich also so ziemlich alle in Okinawa und Japan bekannten Waffenkampfkünste zusammenfassen. (Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Schwert ein!)
Im kobudô wird mit klassischen Waffen aus Holz und Metall trainiert. Die bekanntesten sind bô (棒,Langstock), tonfa oder tuifa (トンファー, Holzwaffe, bestehend aus einem etwa unterarmlangen Stab und einem quer montierten Griff), sai (釵, Metallgabeln), kama (鎌, Sicheln), nunchaku (ヌンチャク, durch Kette oder Seil verbundene, etwa 30 cm lange Holzstäbe), sansetsu kon (三節棍, dreiteiliger durch Ketten oder Seile verbundener Stab), hanbô (半棒, etwa 1m langer Stab, halber bô), eku (櫂, Paddel, Ruder), tekkô (鉄甲, Schlagringe), tinbê & rôchin (Schild (Schildkrötenpanzer) & Kurzspeer), nuntibô (bô mit Metallspitze, Lanze) etc.
Über den Ursprung und die Entwicklung einzelner Schulen und Waffen besteht eine gewisse Ungewissheit, die sich wohl auch in Zukunft nicht völlig beseitigen lassen wird. Aber das soll hier auch nicht weiter von Bedeutung sein. Uns interessiert viel mehr die Frage, welchen Nutzen das Training des kobudô in der heutigen Zeit haben kann.
Neben der Beschäftigung mit einem weiteren Teil der Geschichte und Kultur Asiens, dem auch dieser Kampfkunst inne wohnenden Streben nach Perfektion und der damit verbundenen Möglichkeit, kobudô zum Gegenstand eines Weges zu machen, und der wenigstens potentiellen Relevanz für verschiedene Selbstverteidigungssituationen, lehrt der Umgang mit klassischen Waffen vieles, was im karate wesentlich schwieriger zu erlernen ist. Eine bessere Hand-Auge-Koordination, das sichere Einschätzen von Entfernungen, ein höheres Maß an Körperbeherrschung und Körperdynamik sowie ein verbessertes Reaktionsvermögen sind wesentliche Vorteile, die bei regelmäßigem Training mit klassischen Waffen durch deren Gewicht, Reichweite und Geschwindigkeit sozusagen nebenbei in Erscheinung treten.
Was ist yamane ryû (山 根 流) kobujutsu?
Es gibt verschiedene Schulen des Okinawa kobudô, die heute weit verbreitet sind und oft in Verbindung mit modernem Karate geübt werden. Unter den bekanntesten dieser modernen Traditionen sind die Yabiku-Taira und die Matayoshi Schule. In der Welt des Karate ist yamane ryû kobudô heute weit weniger bekannt.
Vergleicht man die bekannten kobudô-Schulen mit Ôshiro-ha yamane ryû, so lässt sich schon auf den ersten Blick unschwer feststellen, dass sie sich signifikant voneinander unterscheiden. Während vermutlich ein ausführlicher Aufsatz notwendig wäre, die Differenzen und ihre Ursachen genauer darzustellen, kann man allgemein sagen, dass diese Unterschiede weitgehend dadurch begründet sind, daß sich kobudô in der jüngeren Vergangenheit in Verbindung mit modernem Karate entwickelt hat. Durch ähnliche Mechanismen, durch die auch die alten Selbstverteidigungstraditionen aus Okinawa japanisiert wurden, wurde auch modernes kobudô in seiner Entwicklung beeinflusst.
Eine Schule, die von diesen modernen Phänomenen weitgehend unbeeinflusst blieb, ist der Stil des Chinen Klans. Obwohl die genaue Entwicklung des yamane ryû kobujutsu und vor allem des bôjutsu derzeit nicht vollständig bekannt ist, weiß man, dass die Tradition dieses einzigartigen Klan-Stils über Chinen Pechin (1846-1928) zurückverfolgt werden können.
In einem kleinen Dorf namens Samukawa im alten Schlossbezirk von Shuri wurde Chinen Sanda als Sohn eines Kemochi (Pechin-Klasse) während der späten Phase des Ryû Kyû Königreiches geboren. Auch bekannt als Chinen Pechin oder Yamane no Chinen, wie Taira Shinken ihn in seiner “Encyclopedia of Kobudô” (1964) nannte, wurde der Junge in Uchinâdi durch seinen Onkel Chinen Sanjin Andaya Pechin (1797-1881), auch bekannt als Aburaiya Yamagusuku, unterrichtet. Ungeachtet seines Könnens in verschiedenen Arten des bôjutsu, favorisierte Chinen die Traditionen von Sakugawa und Shikiyanaka und ist als brillanter Innovator bekannt. Mit dem Bestreben das Lehren fundamentaler Techniken zu erleichtern, entwickelte Chinen drei einzigartige Bô-Übungsformen (kata), die er shûji no kon (周氏の棍), yonekawa no kon (米川の棍) und shirotaru no kon (白樽の棍) nannte. Er starb im Alter von 82 Jahren und hinterließ ein reichhaltiges, einzigartiges Vermächtnis.
Unter Chinens bekanntesten Schülern waren Yabiku Moden (1882-1941), Higa Raisuke, Higa Seichiro, Higa Ginsaburo, Akamine Yohei, Maeshiro Chôtoku, sein eigener Enkel Masami und sein bekanntester Schüler Ôshiro (Ogusuku) Chôjo (1887-1935), der Lehrer von Kinjô Hiroshi Hanshi (*1919), dem Lehrer von Patrick McCarthy Hanshi (*1954). Trotz der großen Aufmerksamkeit, die Yabiku Moden auf sich zog (weitgehend wegen der Popularität seines Schülers Taira Shinken), war Ôshiro Chôjo (1887-1935) der technisch qualifiziertere Schüler Chinen Sandas.
Der Name yamane ryû stammt von Chinen Masami (1898-1976), dem Enkel von Chinen Sanda und vereinigt drei einzelne chinesische Schriftzeichen:
1. 山, yama — was Berg bedeutet
2. 根, ne — was Grundlage oder Wurzel bedeutet und
3. 流, ryû — was für Strom oder Fluss steht.
Der Begriff beschreibt einfach nur den Ort (das Dorf Samukawa, nahe Shuri), aus dem Chinens Tradition kommt.
Jedes Jahr am 11. August versammeln sich die Einwohner des Dorfes Chinen, um dem Leben Bushi Shikiyanakas (1780-1841) zu gedenken. Bushi Shikiyanaka war ein bekannter Gefolgsmann von König Soeishi, der über bemerkenswerte Fähigkeiten im Soeishi-Familien-Bôjutsu verfügte. Das Vermächtnis dieses Mannes wurde durch eine Reihe ritualisierter Bô-Übungen weitergegeben, die nachträglich Chinen Shikiyanaka no kon (知念志喜屋仲の棍) genannt wurden.
Ein Jikideshi von Chinen Sanda, der weitverbreitete Beachtung für die Art und Weise in der er diese Übungen vorführte fand, war Ôshiro Chôjo. Tatsächlich war Ôshiro in den Techniken Bushi Shikiyanakas so bewandert, daß die Menschen aus dem Dorf Chinen ihn jedes Jahr aufforderten, am 11. August eine Vorführung zu Ehren des Meisters zu geben. Besonders bekannt wurde Ôshiro für seine Vorführung des Shikiyanaka Bô-Stils vor der Hirohito-Familie im Jahre 1924. Wie viele uchinâdi-Lehrer vor ihm, lehrte auch Meister Ôshiro seine Kampfkunst durch ritualisierte Technikfolgen (kata) und zugehörige Partnerübungen, die Grundtechniken mit den zugehörigen Verteidigungsthemen verbanden.
Durch bestimmte charakteristische Elemente einfach zu erkennen, setzt yamane ryû bôjutsu schnelle aber kraftvolle runde Bewegungen, klare Muster von schnellen Stößen, vibrierende Körperbewegungen und geschmeidige Fußarbeit ein. Einige sind der Meinung, dass diese Schule mit der Kunst den Speer zu führen (sôjutsu) verwandt ist, jedoch passt die geschmeidige Art der Bewegungen zu denen des alten, aus China stammenden Uchinâdi, dass einst im alten okinawanischen Ryû Kyû Königreich praktiziert wurde.
Yamane ryû bôjutsu bezieht sich auf fünf Kata: shûji, shirotaru, yonekawa, sakugawa und chinen shikiyanaka. Außerdem sind koryû no kon Bestandteil des yamane ryû bôjutsu Curriculums, wie es von uns neben dem KU gelehrt wird. Neben dem bô gehören Waffen wie sai, tuifa, kama, nunchaku, tinbe & rôchin, tekko, eku etc. zum Repertoire des yamane ryû kobujutsu.